Die folgende Geschichte wurde am 17. September 2022 von Sahin Bloom auf Twitter gepostet: https://twitter.com/sahilbloom/status/1571137341997318147?s=46&t=lmzw5EFrUwuXPefRTjGZ_g bzw. https://threadreaderapp.com/thread/1571137341997318147.html. Ich habe sie ins Deutsche übersetzt, da ich die Kernbotschaft sehr wichtig finde.
Dazu muss man wissen, dass ich im August 1964 geboren wurde, zwei Jahre nachdem mein älterer Bruder Wilhelm Brand im Dezember 1962 im Alter von nur 12 Jahren an einem Gehirntumor gestorben war. Meine Schwester Erika ist 12 Jahre älter, als ich. Bei meiner Geburt hatten meine Eltern beide ihr 40. Lebensjahr bereits überschritten. Meine Mutter Helene Brand starb im Februar 1991 im Alter von nur 66 Jahren und mein Vater Kurt Brand sen. im September 1995 im Alter von 74 Jahren. Als meine Eltern starben, war ich 26 bzw. 31 Jahre alt und spätestens wenn Eltern sterben, werden Kinder schlagartig erwachsen – so empfand ich es damals.
<BEGINN DER GESCHICHTE VON SAHIN BLOOM>
Letztes Jahr hatte ich ein Gespräch, das mein Leben verändert hat. Es veranlasste mich, alles umzuwerfen und quer durchs Land zu ziehen. Die Lektion, die sich daraus ergibt, könnte auch Ihr Leben verändern:
Ich war mit einem Freund auf einen Drink verabredet. Nenn wir ihn George. Als wir uns hinsetzten, fragte George mich nach meinem Leben und wie es mir ginge. Zuerst gab ich ihm die Standardantwort, an die wir uns alle so gewöhnt haben: „Mir geht’s gut. Viel zu tun!“
Er starrte ausdruckslos durch meine leeren Worte hindurch. Als ich den Druck seines Blicks spürte, korrigierte ich mich und fügte hinzu, dass mich das Leben in Kalifornien, das so weit von meinen Eltern an der Ostküste entfernt war, langsam ermüdete.
In den letzten 12 Jahren war ich 3.000 Meilen weit weg gewesen. Und bei dem Weg, den ich eingeschlagen hatte, war kein Ende in Sicht. Der Moment der Verwundbarkeit löste eine Interaktion aus, die mein Leben veränderte:
George: „Wie oft siehst du deine Eltern?“
Ich: „Jetzt vielleicht einmal im Jahr.“
George: „Und wie alt sind sie?“
Ich: „Mitte sechzig.“
George: „Ok, du wirst sie also noch 15 Mal sehen, bevor sie sterben.“
Das war Schlag in die Magengrube.
Ich holte tief Luft. Es war nicht unhöflich gemeint, es war nur… Mathematik.
Wenn die durchschnittliche Lebenserwartung bei etwa 80 Jahren liegt, meine Eltern Mitte 60 sind und ich sie einmal im Jahr sehe, besagt die Rechnung – so deprimierend sie auch sein mag -, dass ich sie noch 15 Mal sehen werde, bevor sie von uns gehen. Unsere gemeinsame Zeit ist endlich, aber wir erkennen es oft erst, wenn es zu spät ist.
Die Zeit ist grausam. Du wirst sie mit deinem ganzen Wesen lieben – vielleicht betest du sogar um mehr davon – aber die Zeit kümmert sich nicht um dich. Ihre Beziehung zur Zeit ist die ultimative unerwiderte Liebe.
Am Morgen nach diesem Gespräch hatten meine Frau und ich ein sehr offenes Gespräch darüber, was wir im Leben wollen. Ein paar Tage später gaben wir unser Haus in Kalifornien zum Verkauf frei, packten unsere Sachen und zogen an die Ostküste, um näher bei unseren Eltern zu sein.
Seit diesem Gespräch, das mein Leben verändert hat, ist über ein Jahr vergangen. Ich werde diese kleinen Momente des Nichtstuns nie bereuen, die wir in den kommenden Jahren miteinander verbringen werden.
Ich werde nie die Momente bereuen, die meine Eltern mit meinem Sohn verbringen können. Ich werde nie etwas davon bereuen.

Mein Freund @waitbutwhy schrieb kürzlich in einem Kommentar in der New York Times über das Phänomen „Elternzeit“. In klassischer Manier hat er eine beeindruckende Visualisierung erstellt, um die Stimmung einzufangen. Sie bringt eine Erkenntnis zum Leben: Unsere Zeit mit unseren Lieben ist so begrenzt und kostbar.

All diese Berechnungen – so deprimierend sie auch sein mögen – sollten ein Aufruf zu den Waffen sein. Ermitteln Sie die Menschen und Aktivitäten, die Ihnen am meisten am Herzen liegen. Setzen Sie rücksichtslos Prioritäten. Es mag schwierig sein – sogar schmerzhaft -, aber es ist eine Entscheidung, die Sie nie bereuen werden.
Die meiste Zeit unseres Lebens verbringen wir damit, ein Spiel zu spielen: Alles, was wir tun, geschieht in Erwartung der Zukunft. Wenn diese Zukunft kommt, stellen wir einfach auf die nächste um.
„Ich kann nicht warten, bis ich 18 bin, damit ich [X] machen kann“.
„Ich kann nicht warten, bis ich 25 bin, damit ich [Y] tun kann.
„Ich kann nicht warten, bis ich 45 bin, damit ich [Z] kann.“
Das ist natürlich, aber es ist ein gefährliches Spiel – eines, das wir irgendwann verlieren werden. Zeit ist unser wertvollstes Gut, und die Gegenwart ist das einzige, was uns garantiert ist. Verbringen Sie sie weise, mit den Menschen, die Sie lieben, auf eine Weise, die Sie nie bereuen werden.
Denken Sie immer an das berühmte Lied von Guy Lombardo: Genieße dich selbst, es ist später als du denkst. Genieße dich selbst, solange du noch im rosaroten Bereich bist. Die Jahre gehen vorbei, so schnell wie ein Zwinkern. Genieße dich selbst, genieße dich selbst, es ist später, als du denkst.
Ich hoffe, dieses Thema regt einige von euch dazu an, mit euren Lieben Gespräche über die Zeit zu führen (und mit wem ihr eure Zeit verbringen wollt).
Dieses Foto erwärmt jedes Quäntchen meines Seins. Die besten Eltern, die sich ein Mann wünschen kann. Die besten Großeltern, die Roman sich hätte wünschen können.

Übrigens geht es in diesem Thread nicht darum zu sagen, dass irgendeine Entscheidung über den Wohnort richtig oder falsch ist. Mein Ziel ist es, die Kostbarkeit der Zeit hervorzuheben und eine aktive Diskussion mit Ihnen und Ihren Lieben über die Kompromisse und Entscheidungen anzuregen, die sich daraus ergeben.
Wir alle müssen unsere eigenen Schlussfolgerungen ziehen. Es handelt sich dabei oft um sehr schwierige Entscheidungen mit einer Vielzahl komplexer Abwägungen. Generell denke ich, dass weniger Menschen die Entscheidung, in der Nähe ihrer Familie zu leben, später im Leben bereuen (im Vergleich zur Alternative).
Ich gehe davon aus, dass in einer Zukunft, in der Fern-/Hybridarbeit zur Norm wird, diese Entscheidungen leichter zu treffen sein werden. In dieser Zukunft könnten die karrierehemmenden Befürchtungen, die viele Umzugsinteressierte bisher zurückhielten, schwinden. Unternehmen, die über die Zufriedenheit ihrer Mitarbeiter nachdenken, sollten dies berücksichtigen.
<ENDE DER GESCHICHTE VON SAHIN BLOOM>
Heute bin ich 58 Jahre alt und habe drei Kinder im Alter von 25, 23 und 21 Jahren, die selbst noch keine Kinder haben. Ich lebe in München und arbeite seit Mai diesen Jahres in Hannover. Vor allem um meine Kinder zu sehen, pendele ich jedes Wochenende die 635 Kilometer zwischen München und Hannover, was pro Wochenende zweimal 5 bis 6 Stunden Lebenszeit verbraucht.
Wenn ich das Lebensalter meiner Mutter erreichen sollte, habe ich nur noch 8 Jahre vor mir. Sollte ich das Lebensalter meines Vaters erreichen, bleiben mir noch 16 Jahre. Sollte ich die durchschnittliche Lebenserwartung eines Mannes in Deutschland von 82 Jahren erreichen, könnte ich noch 24 Jahre leben. So oder so: Meine Zeit auf diesem Planeten ist begrenzt und das Ende ist nicht mehr allzu fern – nicht nur in Relation zu den 58 Jahren, die ich bereits hinter mir habe.
Ich wohne seit 1995, also seit 27 Jahren, in München, davon in den letzten 12 Jahren in einer wunderbaren Penthousewohnung mit Dachterrasse in der 10. Etage eines Hochhauses, welches in den 1950er-Jahren von einer Versicherung für ihre Mitarbeiter gebaut wurde. Das durchschnittliche Mietniveau in München ist allein in den letzten 12 Jahren um mehr als 65 Prozent gestiegen – von 11,70 €/qm in 2010 auf 19,35 €/qm in 2022 (siehe: http://www.wohnungsboerse.net/mietspiegel-Muenchen/2091). Hinzu kommen seit 2022 eine galoppierende Inflation von 7 bis 8 Prozent und explodierende Energiepreise für Strom, Heizung und Kraftstoff.
Wenn ich irgendwann einmal in Rente gehe (was ja mit 58 Jahren eine nicht mehr allzu ferne Perspektive ist), werde ich mir das teure Leben in München nicht mehr leisten können und ich hatte mich bereits mit dem Gedanken abgefunden, nach dem Renteneintritt wieder zurück in meinen Heimatort im nordhessischen Landkreis Waldeck zu ziehen, der 550 Kilometer von München entfernt ist – was dazu führen würde, dass ich meine Kinder nur noch wenige Male pro Jahr sehen würde. Vielleicht muss ich diese Überlegung noch einmal auf den Prüfstand stellen, denn keine Zeit bedeutet: Etwas anderes ist wichtiger. 🤔
P.S.: Diese Erkenntnis hat zwei Dimensionen: Zum einen, die begrenzte Zeit möglich sinnvoll miteinander zu verbringen, zum anderen aber auch, auf seine Gesundheit, seine Ernährung und seine Fitness zu achten, damit die begrenzte Zeit nicht noch kürzer ausfällt, als sie ausfallen könnte.
P.P.S.: Kinder werden erwachsen, nabeln sich vom Elternhaus ab und beginnen, ihr eigenes Leben mit ihren eigenen Familien zu führen. Das ist ein ganz normaler, selbstverständlicher Prozess, der sich in allen Familien früher oder später vollzieht. Kinder sollten ihr eigenes Leben nicht an den Eltern ausrichten, sondern das tun, was gut für sie selbst ist und was sie selbst glücklich macht. Wenn Eltern Bestandteil dieses eigenen Lebens sein können, ist das wunderbar. Aber man muss auch Verständnis dafür haben, wenn das aufgrund bestimmter Lebensumstände (Beruf, Partner, …) nicht möglich ist.