Seit Mai 2022 muss ich aus beruflichen Gründen jede Woche zwischen München und Hannover pendeln. Beide Städte sind Luftlinie rund 490 Kilometer voneinander entfernt. Laut Google Maps liegen zwischen beiden Städten 635 Straßenkilometer, wenn man die kürzeste Strecke über Ingolstadt, Nürnberg, Würzburg, Fulda, Kassel und Göttingen wählt. Da die Züge der Deutschen Bahn entlang der gleichen Städte fahren, dürften die Bahnkilometer sich nur unwesentlich von den Straßenkilometern unterscheiden.

Die Erfahrungen mit der Deutschen Bahn im Mai und Juni 2022 waren für mich frustrierend: Jeder dritte ICE fuhr verspätet, einmal fiel ein Zug komplett aus und wurde durch einen IC ersetzt der zwischen Nürnberg und München nicht auf der Schnellfahrstrecke fahren durfte, bei der Hälfte der Fahrten fuhren die ICEs mit umgedrehten Wagenreihungen und bei der Hälfte der Fahrten waren die reservierten Sitzplätze nicht mehr gültig, es gab ausgefallene Klimaanlagen, nicht oder nur zeitweise geöffnete Bistros, über weite Strecken (gefühlt 50 % der Fahrzeit) nicht funktionierendes WLAN oder Toiletten, die bereits nach der Hälfte der Fahrt so versifft sind, dass man sich zweimal überlegt, ob man sie nutzen möchte. Nach jeder (!) der acht Pendelfahrten zeigt mir die Corona-Warn-App an, dass ich im ICE längere Zeit einem erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt war. Für mich als Angehöriger gleich mehrerer Covid-19-Risikogruppen ist das ein wichtiges Argument zumal es Mitreisende gibt, die es mit der Maskenpflicht im ICE oder in der Tram zum/vom Bahnhof nicht (mehr) allzu genau nehmen.

Entscheidend ist jedoch der grottenschlechte Service der Deutschen Bahn. Trotz der negativen Erfahrungen bei den acht Pendelfahrten im Mai 2022 hatte ich zu Pfingsten Anfang Juni 2022 vorübergehend mit dem Gedanken gespielt, mir eine Bahncard 100 1. Klasse anzuschaffen. Da ich nicht zu den Menschen gehöre, die einfach mal so 7.010 Euro auf den Tisch des Hauses blättern können bzw. wollen, interessierte ich mich für ein monatliches Abo-Modell. Merkwürdigerweise konnte man die Formulare für dieses Abo-Modell nicht von der Homepage der Deutschen Bahn herunterladen. Ich verbrachte am Pfingstsamstag geschlagene 3,5 Stunden damit, über Internet-Recherche, Telefonate mit dem Kundenservice der Deutschen Bahn und zwei Besuche in überfüllten Reisezentren am Münchner Ost- und Hauptbahnhof herauszufinden, wo ich die Formulare zur Beantragung der Bahncard 100 im Abo-Modell bekomme kann, diese auszufüllen und mit (selbst ausgedrucktem) Foto abzugeben. Rund drei Wochen nach der Abgabe erhielt ich eine lapidare E-Mail der Deutschen Bahn, in der mir mitgeteilt wurde, dass das Abo-Modell nicht angeboten werden kann, sondern dass ich den vollen Jahresbeitrag nur im Reisezentrum mit Kreditkarte bezahlen könne:

Nach dieser negativen Erfahrung wollte ich mich erkundigen, ob die sechswöchige Kündigungsfrist für meine vorhandene Bahncard 50 1. Klasse zum 31.08.2022 noch gewahrt bliebe, wenn ich diese erst zum 20.07.2022 kündigen würde. Kurz darauf erhielt ich eine E-Mail vom Kundenservice der Deutschen Bahn, in der mir die Kündigung der Bahncard bestätigt wurde – die ich gar nicht angefragt hatte:

Das war der Tropfen, der das Fass endgültig zum Überlaufen brachte. Ich beschloss, meine Bahncard 50 1. Klasse auslaufen zu lassen und die restlichen 52 Pendelfahrten bis zum Jahresende 2022 mit dem Pkw zu absolvieren. Bei Sixt schloss ich innerhalb von 24 Stunden einen Pkw-Mietvertrag in einem Abo-Modell ab, welches monatlich gekündigt werden kann.

Die erste Fahrt von Hannover nach München an einem Wochenende, an dem aufgrund des Ferienbeginns in Nordrhein-Westfalen überdurchschnittlich viel Verkehr auf den Autobahnen von Norden nach Süden herrschte, brachte folgende Erkenntnisse, die für mich den Pkw zukünftig (wieder) zum bevorzugten Verkehrsmittel machen (nachdem ich fünf Jahre lang nur öffentliche Verkehrsmittel genutzt habe):

  • Die Covid-19-Infektionsgefahr ist im Auto deutlich geringer als im Zug und ich muss nicht 6 bis 7 Stunden lang eine Maske tragen, um mich und andere vor Ansteckung mit Covid-19 zu schützen;
  • Ich bin nicht an Fahrpläne gebunden, sondern kann losfahren, wann und wo ich will – insbesondere die zeitraubenden Anfahrten zum/vom Hauptbahnhof entfallen;
  • Ich bin deutlich schneller am Ziel – selbst wenn ich mit dem Pkw während eines Drittels der Strecke im Stau stehe, wie am ersten Juli-Wochenende, spare ich unter dem Strich eine Stunde Fahrzeit für die 635 Kilometer zwischen Hannover und München ein (weniger als 6 Stunden Fahrzeit mit dem Pkw – statt 7 Stunden oder mehr mit der Bahn/Tram). Wenn kein Stau ist, kann man die Strecke in 5 Stunden und 15 Minuten fahren – und zwar auch dann, wenn man sich an sämtliche Geschwindigkeitsbeschränkungen sowie den § 1 der Straßenverkehrsordnung hält);
  • Ich kann anhalten und mir die Beine vertreten wann und wo ich will und ich kann unterwegs sogar Einkäufe erledigen, wie zum Beispiel die gute nordhessische Mettwurst bei einem Metzger in der Nähe der Autobahnabfahrt Guxhagen auf der A7.
  • Ich muss mich nicht über häufige Verspätungen, Zugausfälle, umgedrehte Wagenreihungen, ausgefallene Klimaanlage und Bistros, nicht funktionierendes WLAN oder versiffte Toiletten ärgern;
  • Ich kann mit dem Pkw jede Menge sperriges Gepäck transportieren und muss mein Gepäck nicht zum/vom Bahnhof schleppen;
  • Ich kann im Pkw Musik oder Hörbücher hören oder einfach nur die Stille genießen; insbesondere trampelt nicht alle 30 bis 90 Minuten eine Elefantenherde mit ihrem Gepäck an mir vorbei und ich werde nicht durch laute Gespräche von Sitznachbarn genervt;
  • Ich kann telefonieren, ohne dass mir das halbe Abteil zuhört;
  • Ich habe eine funktionierende Klimaanlage, die ich individuell so einstellen kann, wie ich es mag;
  • An meinem Zielort Hannover kann ich wochentags 20 Minuten länger schlafen, weil ich mit dem Pkw nur 15 Minuten vom Hotel zum Büro brauche, statt 35 Minuten mit Öffentlichen Verkehrsmitteln.

Wesentliche Nachteile des Reisens mit dem Pkw: Je nach gebuchter Fahrzeugklasse sind Kosten für Fahrzeugmiete und Kraftstoff höher, als die Kosten für das Bahnticket. Pkw-Fahren erfordert eine höhere Konzentration, als Bahnfahren (andererseits vergeht dadurch die Zeit auch schneller). Man kann im Auto nicht am PC arbeiten (allerdings kann ich das im ICE aufgrund der ständigen Störungen und des häufig nicht verfügbaren WLAN auch nicht). Wenn man Pech hat, kann man im Pkw lange im Stau stehen (wenn man Pech hat, kann man aber auch mit der Bahn aufgrund ihrer Unzuverlässigkeit 8 Stunden oder länger unterwegs sein). Und natürlich ist der individuelle Pkw-Transfer klimaschädlicher, als die Nutzung des ICE.

Der Informatiker und Datenanalytiker David Kriesel hat auf einer Veranstaltung des Chaos Computer Club e. V. (CCC) am 29.12.2019 einen sehr interessanten, ca. 60-minütigen Vortrag unter dem Titel „BahnMining -Pünktlichkeit ist eine Zier“ gehalten (siehe: https://media.ccc.de/v/36c3-10652-bahnmining_-_punktlichkeit_ist_eine_zier), den ich Ihnen unbedingt ans Herz legen möchte. „Highlights“ aus diesem Vortrag: Die Deutsche Bahn zählt Verspätungen von Zügen erst, wenn sie sechs Minuten der geplanten Fahrzeit überschreiten und ausgefallene Züge werden in der Pünktlichkeitsstatistik überhaupt nicht mitgezählt.

Fazit: Die Deutsche Bahn hat es mit ihrem miserablen Service geschafft, einen Kunden, der bereit gewesen wäre, Ihr rund 8.000,00 € Jahresumsatz zu bescheren (im Abo-Modell sollte die Bahncard 100 laut Homepage der Deutschen Bahn über 7.800,00 € kosten), zu vergraulen und dazu zu bringen, einen klimaschädlicheren und teureren Pkw zu nutzen. Wenn die Deutsche Bahn einen akzeptablen Service bieten würde, wäre ich in den kommenden sechs Monaten bis zum Jahresende 2022 weiterhin mit dem ICE zwischen München und Hannover hin und her gependelt. So hat mich die Bahn als Kunden verloren. Optimal wäre natürlich, wenn solche Pendelfahrten zwischen zwei weit entfernten Städten überhaupt nicht erforderlich wären, z. B. weil man vom Home-Office aus remote arbeiten kann. Das ist aber nun mal nicht immer möglich. Als Freiberufler muss ich dort arbeiten, wo meine Kunden mich haben wollen bzw. wo die Aufgaben es erfordern. Die meisten der geschilderten Probleme der Deutschen Bahn werden seit Jahrzehnten diskutiert und kritisiert. Während andere Staaten (z. B. Japan, China oder die Schweiz) zeigen, wie man es deutlich besser machen kann, stümpert die Deutsche Bahn vor sich hin und verwaltet lieber ihre Probleme, statt sie zu lösen. Wenn man die Deutsche Bahn in Social Media-Netzwerken kritisiert, finden sich regelmäßig Beschwichtiger und Relativierer, die die Kritik als „Bahn Bashing“ abqualifizieren und versuchen, mit der Moralkeule Kritik im Keim zu ersticken. Dummerweise löst man Probleme nicht, indem man sie totschweigt oder beschönigt. Dieser Blog soll dazu beitragen, Druck auf die Verantwortlichen aufzubauen, sich endlich darum zu kümmern, dass sich Bahnfahren in Deutschland zu einer attraktiven Alternative entwickelt.

2 Kommentare zu „Wie die Servicewüste Deutsche Bahn ihre Kunden vergrault

  1. Ich bin zwar ein ausgesprochener Bahnfan, aber ich muss Dir Recht geben. Das geht so gar nicht. Und wenn ich einen Führerschein hätte, würde ich wohl auch von Bahn auf Auto umsteigen. Liebe Grüße – Ulrike

  2. Daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Ganz im Gegenteil. Man muss sogar froh sein, wenn die aktuellen Bedingungen sich nicht noch weiter verschlechtern.
    Die Ursachen des maroden Zustands der Bahn sind bekannt. Es ist aber auch ersichtlich, dass sich der Staat nicht daran interessiert ist, hier einzugreifen, da die Bahn nun mal fatalerweise privatisiert wurde und somit die Deutsche Bahn AG sich kümmern müsste. Durch dumme Fehlentscheidungen wie Stuttgart 21 wird aber die nächsten Jahrzente weiterhin kein Geld für die Sanierung weiter Teile der Bahn vorhanden sein.
    Ergo: Die Aktualität dieses Artikels wird in 10, 20 oder gar 30 Jahren noch vorhanden sein.

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