Eine der besseren Analysen, die ich zu den Auswirkungen der Coronakrise auf unsere Gesellschaft gelesen habe, wurde am 31.12.2020 in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) unter dem Titel „Die gekränkte Gesellschaft – in Sachen Corona kommt es nicht darauf an, was die Dinge mit uns, sondern was wir mit den Dingen machen“ veröffentlicht: https://www.nzz.ch/meinung/die-gekraenkte-gesellschaft-corona-zerlegt-unser-modernes-mindset-ld.1594136.

Zitat daraus: „Die oft gestellte Frage, was das Virus mit uns und der Gesellschaft, in der wir leben, macht, war immer schon falsch formuliert. Richtig müsste sie lauten: Wie reagieren wir auf die pandemische Bedrohung? Eine naheliegende, aber selten gegebene Antwort wäre: Wir sind gekränkt. All das, was die moderne Gesellschaft im vergangenen Jahr durchmachen musste, war in ihrem Fortschrittsprogramm nicht vorgesehen. Dieses orientierte sich an Parametern wie Wachstum, Beschleunigung, Optimierung, Sicherheit, Offenheit und Austausch. Seuchen gab es höchstens in Weltgegenden, die weder die europäischen Hygiene- und Gesundheitsstandards noch das unbedingte Vertrauen in eine aufgeklärte Wissenschaft kannten.

Dass ein Virus die Dynamik einer technologisch hochgerüsteten Gesellschaft bremsen, ja ausser Kraft setzen kann, überstieg unser Vorstellungsvermögen. Und dass nicht nur die vollmundigen Versprechungen der Trendforscher, sondern auch die besorgten Aufrufe der Klimaschützer von eher exotischen Begriffen wie Lockdown, Virenlast, Inzidenz, Übersterblichkeit, Superspreader, Maskenpflicht und Abstandsregel verdrängt wurden, hat den Nerv einer Gesellschaft getroffen, die wähnte, andere Sorgen zu haben.

Mit Recht ist angemerkt worden, dass wir dem Virus lange nichts anderes entgegenzusetzen wussten als jene Massnahmen, die schon die Seuchenbekämpfung des Mittelalters gekennzeichnet hatten: Absonderung, Kontaktvermeidung, Desinfektion. Schlimmeres, als in solch finstere Zeiten zurückgestossen zu werden, kann einer Zivilisation nicht passieren, die überzeugt davon ist, technisch und moralisch alle vergangenen Epochen überflügelt zu haben. Das Coronavirus hat uns in einem doppelten Sinn gekränkt: Es machte eine bisher unbekannte, ansteckende, womöglich tödliche Erkrankung zum alles beherrschenden Thema, und es hat damit unser zur Überheblichkeit neigendes Selbstwertgefühl empfindlich verletzt.“

Basierend auf dieser Ausgangslage beschreibt der Autor, Konrad Paul Liessmann, Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien, die Auswirkungen der Coronakrise entlang folgender Struktur:

1. Die gekränkte Gesellschaft ist eine trotzige Gesellschaft.

2. Die gekränkte Gesellschaft ist eine zögerliche Gesellschaft.

3. Die gekränkte Gesellschaft ist eine dogmatische Gesellschaft.

4. Die gekränkte Gesellschaft ist eine ungeduldige Gesellschaft.

5. Die gekränkte Gesellschaft ist eine widerborstige Gesellschaft.

6. Die gekränkte Gesellschaft ist eine gespaltene Gesellschaft.

Fortsetzung des Zitates: „Die Kränkung der gekränkten Gesellschaft sitzt so tief, dass manche die nun angebotene Impfung als Zumutung und weiteren Angriff auf ihre Freiheit interpretieren – so, als wollte man der Forschung und der Pharmaindustrie diesen Triumph einfach nicht gönnen. Zwar werden die Vakzine nicht alle Probleme mit einem Schlag lösen, doch manches liesse sich endlich wieder unter einer anderen Perspektive sehen. Aber auch hier gilt: Es kommt nicht darauf an, was die Dinge mit uns, sondern was wir mit den Dingen machen.“

Ich halte das für eine sehr gelungene Diagnose.

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