Der geschätzte Gunter Dueck, bis zum Eintritt in seinen (Un-)Ruhestand im Jahr 2011 Chief Technology Officer von IBM Deutschland, hat am 15.01.2021 eine interessante Kolumne im Merton Magazin unter dem Titel „Megatrend Digital First, Corona und unser Home-Office“ veröffentlicht: https://merton-magazin.de/megatrend-digital-first-corona-und-unser-home-office.

Die Einleitung der Kolumne lautet: „Jahrelang haben wir von der Digitalisierung nur geredet. Corona verhilft ihr nun zum Durchbruch. Einkaufen, Arbeiten, Konferenzen: Das alles findet nun online statt. Und das wird auch nicht mehr zurückzudrehen sein.“

Dueck zählt folgende Vorteile des „Megatrends Digital First“ auf: „Corona beschränkt unsere Begegnungen. Wir müssen wohl notgedrungen viel mehr von daheim aus agieren. Es ist beschwerlich, mit einer Maske zu arbeiten, auch lusttötend, mit einer Maske einzukaufen. Wir versuchen das jetzt „digital“:

  • Telefonieren? Das ist vollkommen kostenlos und sogar weltweit über WhatsApp möglich – mit oft besserer Qualität, da das WLAN in der Regel besser als das Funknetz überträgt. 
  • Reines Telefonieren weicht langsam der Bildkommunikation (WhatsApp, Zoom, Skype, Teams, Slack).
  • Arbeitsmeetings finden zunehmend über Bildkommunikation statt. 
  • Wir kaufen im Internet. Das lange und maskierte Anstehen vor den Innenstadtgeschäften wollen wir uns nicht mehr geben. Das Angebot im Netz ist viel umfangreicher als in den Geschäften.
  • Wir bezahlen mit Karte und bald alle kontaktlos.
  • Menschen, die längere Zeit im Home-Office arbeiten mussten, wollen nun nicht mehr im Verkehrsgewühl zur früheren Arbeitsstätte zurück. Warum so viel Zeit und Nerven verlieren? 
  • Konferenzen finden nun online statt. Man fährt nicht mehr für zwei Tage irgendwohin, um aus dem langen Programm eigentlich nur ein paar wenige interessante Vorträge zu picken und die Restzeit zu dösen. Oft merken wir in Sekunden, dass ein Vortrag zu kompliziert, uninteressant oder grottenschlecht ist – dann müssen wir ihn ätzend ermüdend absitzen. Im Home-Office holen wir Kaffee, schalten einen andere Rede an oder arbeiten bis zur nächsten, die interessant erscheint.“

Vermutlich würden es die meisten Menschen (inklusive meiner Wenigkeit) begrüßen, wenn es nicht notwendig wäre, täglich oder wöchentlich zwischen ihrem Wohnsitz und ihrer Arbeitsstelle hin und her zu pendeln. Zwischen 1989 und 1994 musste ich als Arbeitnehmer von meinem Wohnsitz im Norden des Landkreises Waldeck-Frankenberg täglich 50 Kilometer zu meiner Arbeitsstelle in Kassel pendeln und zwischen 2013 und 2015 waren es als freiberuflicher IT-Berater und Interim Manager wöchentlich 650 Kilometer zwischen meinem Wohnsitz in München und meinem Auftraggeber in Essen. Ich weiß daher aus eigener Erfahrung, wie viel wertvolle Lebenszeit man durch diese Berufspendelei verschwenden kann.

Die klassische Alternative zur Berufspendelei besteht darin, seinen Wohnsitz möglichst nahe an seine Arbeitsstelle zu verlagern, was häufig bedeutet: Umzug vom Land in die Stadt – in der Regel einhergehend mit deutlich höheren Kosten für Miete und Lebenshaltung. Diesen Schritt habe ich selbst 1994 vollzogen, als ich von meiner nordhessischen Kleinstadt, wo ich für eine 90 m² große Wohnung sozialverträgliche 500 DM (also 256 €) Warmmiete bezahlte, nach München umzog, wo ich für die halbe Wohnungsgröße mehr als die Dreifache an Quadratmetermiete zahlen musste (umgerechnet 9,2 €/m² statt 2,84 €/m²).

Digitalisierung und Home Office bieten nun die Chance, die Landflucht der letzten Jahre in eine Stadtflucht umzukehren, die dazu beiträgt, das aus dem Ruder gelaufene und für Normalverdiener nicht mehr erschwingliche Mietpreisniveau vor allem in Großstädten wieder auf ein erträgliches Maß zu reduzieren.

Dazu ein paar statistische Angaben: Die durchschnittliche Nettokaltmiete (ohne Heizkosten und „kalte“ Nebenkosten) lag in München laut dem von Wohnungsboerse.net jährlich bereit gestellten Mietspiegel im Januar 2021 bei 23,05€/m² und die Mietpreise für eine 100 m²-Wohnung sind in München in den 11 Jahren zwischen 2010 und 2021 um satte 71% (!) gestiegen, also um durchschnittlich 5 % pro Jahr:

  • 2010: 11,70 €/m² (= 100 %)
  • 2011: 12,16 €/m² (+4 %)
  • 2012: 13,22 €/m² (+13 %)
  • 2013: 13,34 €/m² (+14 %)
  • 2014: 14,21 €/m² (+22 %)
  • 2015: 14,35 €/m² (+23 %)
  • 2016: 17,29 €/m² (+48 %)
  • 2017: 18,07 €/m²  (+54 %)
  • 2018: 17,87 €/m² (+53 %)
  • 2019: 18,18 €/m² (+55 %)
  • 2020: 19,52 €/m² (+67 %)
  • 2021: 19,96 €/m² (+71 %)

Zum Vergleich können Sie sich die Veränderung der Bruttolöhne und -gehälter in Deutschland gegenüber dem Vorjahr von 1992 bis 2019 auf Basis der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung in dieser STATISTA-Veröffentlichung vom 11.12.2020 anschauen. Laut dieser Statistik lag der durchschnittliche monatliche Bruttoverdienst je Arbeitnehmer in Deutschland im Jahr 2019 bei 3.095,00 € (was in Steuerklasse 3 mit einem Kinderfreibetrag ca. 2.310,00 € netto entspricht). Zu beachten sind deutliche Unterschiede unter anderem zwischen Regionen, Branchen und auch nach Geschlechtern aufgrund des sogenannten Gender Pay Gap (welches immer noch bei rund 20 % liegt). Auch wenn der durchschnittliche monatliche Bruttoverdienst von Arbeitnehmern in München etwas höher sein dürfte, als der Bundesdurchschnitt von 3.095,00 €, bleibt einer Familie mit einem Kind nach Abzug von ca. 25 % Steuern und Sozialabgaben kaum genug finanzieller Spielraum, um sich eine 100 m²-Wohnung für rund 2.000,00 € Nettokaltmiete pro Monat leisten zu können.

Der 1991 verstorbene Kölner Karnevalist Jupp Schmitz würde an dieser Stelle vermutlich singen: „Wer soll das bezahlen, wer hat das bestellt? Wer hat so viel Pinke-Pinke, wer hat so viel Geld?„.

Auch Umwelt, Klima und die Gesundheit von Menschen vor allem in Städten dürften von weniger Berufspendelei und weniger Reisen profitieren. Laut dem Forschungsnetzwerk „Global Carbon Project“ ging der Ausstoß von Kohlendioxid (CO2) aus der Verbrennung von Kohle, Gas und Öl im Jahr 2020 aufgrund der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie um 7 % im Vergleich zu 2019 zurück. In den USA (minus 12 %) und in der EU (minus 11 %) war der Rückgang der CO2-Emissionen besonders groß. Der Sektor mit dem größten Emissionsrückgang war dem Bericht zufolge der Verkehr und hier vor allem die Luftfahrt – siehe: https://www.tagesschau.de/ausland/cozwei-rueckgang-corona-101.html. Den Einsparungen beim Energieverbrauch und bei den Luftschadstoffemissionen durch weniger Berufspendelei und weniger Reisen stehen natürlich Mehraufwendungen für die Erweiterung und den Betrieb der Netz- und Serverinfrastruktur und für die Datenübertragung zwischen den Home Offices und den IT-Infrastrukturen der Unternehmen gegenüber, die man saldieren muss.

Leben und Arbeiten von Zuhause aus mit Hilfe der Digitalisierung hat also offensichtliche Vorteile, denen allerdings auch eine Reihe (leider nicht ganz so offensichtlicher) Nachteile gegenüber stehen, von denen die wichtigsten eng mit dem Geschäftsmodell der sogenannten „digitalen Plattformen“ verbunden sind, welche in die Privatsphäre ihrer Nutzer eindringen, indem sie soziale Verhaltenskontrolle und Überwachungskapitalismus betreiben.

Dazu ein kleiner Exkurs …

Wie die folgende Grafik illustriert, gibt es zwei Arten von Digitalisierung: Bei der ersten Variante ist der Mensch das Subjekt (also derjenige der etwas tut) und dieses Subjekt profitiert, z. B. von der Optimierung von Wertschöpfungsketten, der Automatisierung von Prozessen oder der Analyse von Produktdaten. Bei der zweiten Variante ist der Mensch das Objekt (also derjenige, mit dem etwas getan wird), dessen Leben überwacht, „verdatet“, monetarisiert und manipuliert wird.

Shoshana Zuboff, eine US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin und emeritierte Professorin für Betriebswirtschaftslehre der Harvard Business School, erläutert in ihrem in 2018 veröffentlichten Buch „Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus“ wie sich diese zweite Variante der Digitalisierung entwickelt hat – Zitat aus einer Blinkist-Zusammenfassung des Buches:

„Vorreiter und Erfinder des Überwachungskapitalismus ist Google, das 1998 von den Stanford-Studenten Larry Page und Sergey Brin gegründet wurde. In seinen Anfangsjahren war Google eine einfache Suchmaschine. Die Daten, die Nutzer durch ihre Suchanfragen erzeugten, galten noch nicht als wertvolle Ressource, sondern als bloße Datenabgase. Genutzt wurden sie nur, um die Suchergebnisse für ihre Nutzer zu optimieren. Google verkaufte sie nicht als Produkt und schlug auch keinen Profit daraus, es bot lediglich eine nützliche Suchfunktion an. 

Das änderte sich, als im Jahr 2000 die Dotcom-Blase platzte. Den jungen Internetunternehmen sprangen reihenweise die Investoren ab und auch Google musste zusehen, wie es an Geld kam. Das Unternehmen gründete das AdWords-Team und begann, die Verhaltensdaten seiner Nutzer an die Werbebranche zu verkaufen. Der Überwachungskapitalismus war geboren. Google zielte fortan darauf ab, Werbung profitabler zu machen – natürlich nicht im Sinne der Nutzer, sondern im Eigeninteresse sowie im Interesse seiner Werbekunden.

Verhaltensdaten sind der Rohstoff der Überwachungsökonomie. Das Geschäftsmodell sieht vor, dass der Nachschub an Verhaltensdaten stetig steigt. Dieser Extraktionsimperativ zielt auf die Umwandlung unseres Lebens in Verhaltensdaten ab. Aus den akkumulierten Daten fertigt Google seine Produkte: Vorhersagen über das Verhalten der Nutzer. Die Produktionsmittel dieses Fertigungsprozesses sind intelligente Algorithmen, die Daten analysieren, um immer präzisere Vorhersagen zu erzeugen. Die Vorhersageprodukte werden auf einem Marktplatz verkauft, auf dem sich Internetunternehmen und Werbekunden treffen.

Als Google den Wert von Verhaltensdaten entdeckte, erhob es sogleich Anspruch darauf, indem es sechs Deklarationen veröffentlichte, die auch als Gründungsdokument des Überwachungskapitalismus bezeichnet werden können.

Erstens erhob Google Anspruch auf menschliche Erfahrung als besitzerloser Rohstoff. Die Rechte und Interessen der betroffenen Personen wie auch deren Kenntnisnahme und Einverständnis können vor diesem Hintergrund ignoriert werden. Zweitens forderte Google das Recht ein, die Erfahrung seiner Nutzer in Verhaltensdaten umwandeln zu dürfen. Daraus leitete Google wiederum Besitzansprüche auf die erhobenen Verhaltensdaten (drittens) sowie auf das darin enthaltene Wissen ab (viertens). Fünftens nahm sich Google das Recht heraus, darüber zu entscheiden, wie und zu welchem Zweck dieses Wissen eingesetzt wird. Sechstens schrieb sich Google die Deutungshoheit über die rechtmäßige Art der Datenerhebung und -nutzung zu.

Diese beispiellose Aneignung von Verhaltensdaten und Wissen bildet die Grundlage für die Vorherrschaft im Kontext des Überwachungskapitalismus. Denn Wissen übersetzt sich bekanntlich in Macht. Die Wissensteilung, das heißt, die Frage nach dem Zugang zu Wissen, bestimmt die gesellschaftliche Ordnung. Der Überwachungskapitalismus etabliert eine fatale Asymmetrie von Wissen und Macht. Eine kleine, von privatwirtschaftlichen Interessen geleitete und durch intelligente Maschinen unterstützte Priesterschaft von Computerexperten waltet über die Wissensteilung in der Gesellschaft.

Die Ideologie des Neoliberalismus, die staatliche Aufsicht und Regulierung zum Feind erklärte, wurde zum wahren Glücksfall für die aufstrebende Klasse der Überwachungskapitalisten. Sie bot ihnen ein schützendes Biotop. Deshalb wird ihresgleichen auch nicht müde, das neoliberale Mantra zu wiederholen: Regulierung sei eine hemmende Kraft, die den Fortschritt ausbremse. Um technologische Innovation zu garantieren, müsse das Internet gesetzlos bleiben.

Die Macht der Überwachungskapitalisten ist weder demokratisch legitimiert, noch gibt es wirksame Gesetze, die sie einschränken.

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 wurde die Forderung nach dem gläsernen Bürger auch vom Staat unterstützt und legitimiert. Der Schutz der Privatsphäre war nicht länger von Interesse, stattdessen drehte sich alles um die öffentliche Sicherheit. In den USA und der EU wurden in Windeseile Gesetze verabschiedet, die eine umfassende Überwachung im Internet erlaubten. Das staatliche und privatwirtschaftliche Interesse an einer totalen Überwachung glich sich immer weiter an und die Geheimdienste nahmen sich Google und Facebook zum Vorbild.“

Mittlerweile wird die Praxis der Überwachungskapitalisten als Normalität und Selbstverständlichkeit dargestellt. Nutzerdaten werden von den Datenkraken standardmäßig aufgezeichnet und fast wie selbstverständlich weiterverwertet, ohne dass dies in der Praxis von den betroffenen Nutzern groß hinterfragt wird.“

Sehr wichtig in diesem Zusammenhang: Was gut für die Profite von US-amerikanischen Datenkraken wie Facebook, Amazon, Netflix, Google, Microsoft, Apple und Nvidia (FANGMAN) oder auch Twitter und LinkedIn sowie ihren chinesischen Konkurrenten Alibaba, WeChat, Baidu und Tencent ist, ist noch lange nicht gut für unsere Demokratie und unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt. Vor allem deshalb nicht, weil die Datenkraken ihre Profite aus Werbeeinnahmen vor allem dadurch maximieren können, dass sie die Nutzer so lange wie möglich auf ihren Plattformen halten und zu so vielen Interaktionen wie möglich animieren, also Klicks, „Likes“, Kommentare, Postings, Artikel und das Teilen interessanter Inhalte. Und je kontroverser, emotionaler und „krawalliger“ die Inhalte sind, desto länger und engagierter setzen sich die Nutzer damit auseinander – selbst in Business Social Media-Netzwerken wie LinkedIn oder XING, wo sich regelmäßig grenzwertige bis unterirdische Diskussionen zu Themen wie „Umfang mit der Corona-Pandemie“, „Mobilität der Zukunft“ oder „Klimawandel“ finden.

Fortsetzung des Zitates aus der Blinkist-Zusammenfassung: „Die Vision, Menschen lückenlos zu beobachten, ihr Verhalten aufzuzeichnen und zu analysieren, mag auf den ersten Blick futuristisch erscheinen. Eigentlich ist sie jedoch sehr alt. Bereits in den Sechzigerjahren statteten Wissenschaftler Riesenschildkröten auf den Galapagosinseln mit Sensoren aus, um stets darüber informiert zu sein, wo sich die Tiere gerade aufhalten und wie es ihnen geht. Heutzutage sind wir leider die Schildkröten.

Doch noch ist die Lückenlosigkeit nicht vollständig erreicht. Das nächste Etappenziel der Überwachungskapitalisten ist es deshalb, weitere Einfallstore zu schaffen. Zu diesem Zweck will man die Datenextraktion von Geräten wie Laptop und Smartphone entkoppeln, da sie an gewisse Grenzen stößt. Das soll sich mit dem Internet der Dinge ändern. Hier ist alles miteinander vernetzt und jedes Gerät wirft Daten ab: Lautsprecher, Kühlschrank, Thermostat und nicht zu vergessen die sogenannten Wearables wie die Smartwatch. Es geht darum, eine Computerumwelt zu schaffen, in der ein System vernetzter und unscheinbarer Datensammler die reale Welt überlagert.

Die Computerumwelt soll einem weiteren Imperativ folgen: dem Vorhersageimperativ. Der Wert der Daten basiert auf ihrer Vorhersagekraft. Während die Vorhersageprodukte der ersten Generation vor allem zielgerichtete Online-Werbung ermöglichten, soll ihre Treffsicherheit nach und nach bis zum höchstmöglichen Grad der Gewissheit verbessert werden. Unser aller Verhalten soll vollkommen berechenbar werden. Diese Steigerungslogik ist Ausdruck des Wettbewerbs zwischen den Überwachungskapitalisten um mehr Präzision.

Die Expansion wird als Notwendigkeit dargestellt. „Viele der Veränderungen, die wir diskutieren, sind unvermeidlich. Sie kommen“, behaupten die Google-Manager Schmidt und Cohen. Die Unvermeidlichkeitsdoktrin von Google ist vor allem ein rhetorisches Mittel. Sie dient als trojanisches Pferd, das über ökonomische Prinzipien wie den Extraktions- und Vorhersageimperativ hinwegtäuscht. Sie soll uns in Resignation und Passivität gefangen halten und davon überzeugen, dass die Gestaltung der Zukunft allein durch die Riesenkonzerne bewerkstelligt werden könne.

Derweil wird die reale Welt für die Überwachungskapitalisten zum Wirklichkeitsgeschäft. Dieses Geschäft funktioniert jedoch nur dann, wenn den Überwachten kein Mitspracherecht gewährt wird. Mit Hilfe digitaler Assistenten will der Überwachungskapitalismus eine weitere Hürde zur Totalüberwachung nehmen: die Grenze zu unserem Innenleben. Dahinter warten die für die Werbebranche wahrscheinlich wertvollsten Rohstoffe: Emotionen, Träume, Bedürfnisse, Vorlieben, Sehnsüchte und Stimmungen. Aufgabe der digitalen Assistenten ist es, ein Vertrauensverhältnis zu uns aufzubauen. Doch der Schein trügt, denn die vermeintliche Hilfe dient einzig dem Vorhersageimperativ. Unser Innenleben soll in Daten verwandelt und als Vorhersageprodukt verkauft werden.“

… Ende des Exkurses

Unter anderem aus den vorgenannten Gründen halte ich den von Gunter Dueck in seiner Kolumne vorhergesagten „Megatrend Digital First“ für nicht unproblematisch. Denn der Preis für die schöne neue Welt dieses Megatrend ist der weitgehende Verlust unserer Privatsphäre durch soziale Verhaltenskontrolle beim Home Office, Home Schooling, Home Shopping, Home Conferencing und Social Media-Networking.

Home Office funktioniert ohnehin nur mit Hilfe von Vernetzung, E-Mail, Chats, Videokonferenzen oder Communication & Collaboration-Plattformen (Zoom, Teams, WebEx, Slack, …), also Technologien, die zumeist von US-amerikanischen Datenkraken bereitgestellt werden. Google und Facebook sind die größten Datenkraken des Planeten mit den höchsten Werbeumsätzen, die jedem Möglichkeit nutzen, um mit Hilfe von Suchmaschinen, E-Mail-Services, Chat-Services, Communication & Collaboration-Services sowie Social Media-Plattformen so viele personenbezogene Daten wie möglich von ihren Nutzern abzugreifen.

Es gibt also gleich drei starke Triebkräfte, die unterschiedliche Instanzen dazu motivieren, das Verhalten der Menschen als Bürger, Internet-/Plattform-Nutzer oder Konsument zu überwachen:

  1. Digitale Plattformen und Technologie-Service-Provider betreiben soziale Verhaltenskontrolle der Nutzer als Grundlage zum Verkauf von personenbezogener Werbung.
  2. Behörden und Geheimdienste betreiben soziale Verhaltenskontrolle zur Wahrung staatlicher Sicherheitsinteressen unter dem Deckmäntelchen des „War against Terror“.
  3. Arbeitgeber versuchen „Home Chilling“ (wie Gunter Dueck so schön schreibt) im Home Office durch ihre Arbeitnehmer zu erkennen und zu unterbinden.

Leider gibt es in dieses System außer den lästigen Datenschützern keine Instanz, die die Privatsphäre der Bürger verteidigt und verhindert, dass der Mensch zu einem „Ding“ im Internet der Dinge degradiert wird, dessen Verhaltensdaten ohne nennenswerte gesetzliche Einschränkungen gesammelt, analysiert und monetarisiert werden können.

Hinzu kommt noch ein weiterer Aspekt, dessen Tragweite man ebenfalls erst auf den zweiten Blick versteht. Ich habe vor vielen Jahren einmal gelernt: „Das Leben ist draußen“ – und echtes Leben machen nicht die Momente aus, in denen man atmet (während man in einen Computerbildschirm oder in ein Smartphone-Display starrt), sondern die Momente, in denen es uns den Atem verschlägt (weil wir Zeit mit anderen Menschen verbringen oder uns in der freien Natur bewegen). Die virtuelle „User Experience“, die das Internet und Social Media-Plattformen ermöglichen, hat eine andere, deutlich niedrigere Qualität, als echte zwischenmenschliche Erlebnisse und Erfahrungen im richtige Leben – selbst wenn man alle Möglichkeiten ausreizt, die virtuellen Erlebnisse z. B. mittels Virtual Reality, Künstlicher Intelligenz oder Holographie aufzupeppen.

Die digitale Übertragung eines Konzertes, eines Fußballspiels oder eines Business Events mit berühmten Keynote Speakern wird einem Teilnehmer niemals die gleiche „User Experience“ verschaffen können, wie die physische Teilnahme an diesen Ereignissen im richtigen Leben. Der digitale Besuch der Niagara Fälle, der ägyptischen Pyramiden oder des australischen Great Barrier Reef wird die Besucher niemals so beeindrucken, wie der Besuch dieser Naturschauspiele im richtigen Leben. Und auch bei bester Audio- und Videoqualität sind zwischenmenschliche Kontakte im richtigen Leben nicht mit dem digitalen Abziehbild zu vergleichen. Videokonferenzen mögen im Berufsleben ein halbwegs akzeptabler Kompromiss sein; im Familienleben oder gar in Liebesbeziehungen sind sie es ganz sicher nicht.

Last but not least stelle ich mir die Frage, wer nach 8 Stunden Videokonferenzen und E-Mail-Verkehr im Home Office, 2 Stunden Social Media-Networking, 1 Stunde Messenger-Chat, 1 Stunde Online Gaming und 1 Stunde Home Shopping überhaupt noch Zeit, Lust und Energie haben kann, um noch mehr seiner kostbaren Lebenszeit in weiteren virtuellen Aktivitäten oder Social Media-Apps, wie „Clubhouse“ zu verplempern? Wer sich 8 bis 10 Stunden lang seinen Hintern plattgesessen hat, um seine Arbeit im Home Office zu erledigen, tut gut daran, die restlichen 8 Stunden bis zum Schlafengehen im richtigen Leben zu verbringen und sich um eine Gesundheit, seine Fitness und seine Familie zu kümmern, finden Sie nicht?

Fazit: Ich hoffe inständig, dass sich der von Gunter Dueck prognostizierte „Megatrend Digital First“ nicht etablieren kann und dass wir nach Bewältigung der Coronakrise wieder zum „normalen Leben“ zurückkehren können – nicht weil ich eine digiphobe Spaßbremse mit beschränkten Horizont bin (unbescheiden, wie ich bin, würde ich mir eher das Gegenteil bescheinigen), sondern weil ich mich nicht durch Datenkraken aus den USA und China zu einem „Ding“ im Internet der Dinge degradieren lassen möchte, dessen Leben durch soziale Verhaltenskontrolle in Echtzeit zum Zweck der Profitmaximierung überwacht und „verdatet“ wird. Es wäre wünschenswert, wenn möglichst viele Menschen 20 Jahre nach der Erfindung der Daten- und Plattformökonomie endlich erkennen würden, dass Internet und Social Media-Netzwerke nur einen müden Abklatsch des echten Lebens bieten können, welches sich draußen abspielt und bei dem physische zwischenmenschliche Kontakte ein integraler Bestandteil sind. Schließlich läge es auch im Interesse unserer Demokratie und unseres gesellschaftlichen Zusammenhaltes, wenn wir die Manipulations- und Kontrollmacht privater Datenkraken aus fremden Rechtsräumen und Rechtskulturen durch Regulierung und Besteuerung auf das unvermeidliche Minimum begrenzen würden.

P.S.: Sie kennen vermutlich Pamela Anderson, Schauspielerin und Model, aus Filmen und Serien wie „Baywatch“. Seit über 30 Jahren führt diese Pamela Anderson ein Leben in der Öffentlichkeit: „Playboy“, Fernsehen, rote Teppiche, öffentliches Beziehungsleben, soziale Netzwerke. Doch offenbar hat sie nun genug davon und kündigte am 26.01.2021 ihren Abschied aus den Social Media-Netzwerken an. Die 53-jährige Anderson erklärte in gleichlautenden Postings auf Instagram, Facebook und Twitter, allen Social-Media-Kanälen für immer den Rücken kehren zu wollen. Ihre Begründung unter der Überschrift „Goodbye Social Media“ finde ich bemerkenswert (siehe folgender Screenshot):

Ergänzende Lektüre:

▶︎ „Der Hype um Clubhouse – Herr, wirf Hirn vom Himmel …“ vom 25.01.2021: https://kubraconsult.blog/2021/01/25/der-hype-um-clubhouse-herr-wirf-hirn-vom-himmel/

▶︎ „Kontrolle über Daten ist Kontrolle über Menschen“ vom 14.01.2021: https://kubraconsult.blog/2021/01/14/kontrolle-uber-daten-ist-kontrolle-uber-menschen/

▶︎ „Why our laws can’t protect me from my digital stalker“ vom 09.01.2021: https://kubraconsult.blog/2021/01/09/why-our-laws-cant-protect-me-from-my-digital-stalker/

▶︎ „Algorithmen, digitale Plattformen und andere unbekannte Wesen“ vom 11.01.2021: https://kubraconsult.blog/2021/01/11/algorithmen-digitale-plattformen-und-andere-unbekannte-wesen/

▶︎ „Leben im „Hier und Jetzt“ und die Chronik von Facebook“ vom 15.01.2021: https://kubraconsult.blog/2021/01/15/leben-im-hier-und-jetzt-und-die-chronik-von-facebook/

▶︎ „Warum Sie WhatsApp jetzt verlassen sollten“ vom 08.01.2021: https://kubraconsult.blog/2021/01/08/warum-sie-whatsapp-jetzt-verlassen-sollten/

▶︎ „Eigene Webseite vs. Social Media Account“ vom 29.12.2020: https://kubraconsult.blog/2020/12/29/eigene-webseite-vs-social-media-account/

▶︎ „Social Media-Plattformen – wenn der Bock den Gärtner spielt“ vom 12.01.2021: https://kubraconsult.blog/2021/01/12/social-media-plattformen-wenn-der-bock-den-gartner-spielt/

▶︎ „Zensur durch Social Media-Plattformen – der richtige Weg?“ vom 10.01.2021: https://kubraconsult.blog/2021/01/10/zensur-durch-social-media-plattformen-der-richtige-weg/

▶︎ „Wehret den Anfängen, aber wie?“ vom 11.01.2021: https://kubraconsult.blog/2021/01/11/wehret-den-anfangen-aber-wie/

▶︎ „Wie die US-Regierung die US-amerikanische IT-Industrie diskreditiert“ vom 08.03.2017: https://kubraconsult.blog/2017/03/08/wie-die-us-regierung-das-internet-diskreditiert/

▶︎ „George Orwell war eine Warnung und keine Bedienungsanleitung“ vom 14.03.2017: https://kubraconsult.blog/2020/01/13/george-orwells-1984-war-eine-warnung-und-keine-bedienungsanleitung/

2 Kommentare zu „Möchten Sie nur ein „Ding“ im Internet der Dinge sein?

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